Es gibt Momente im Leben, in denen wir eine Entscheidung treffen, von der wir ganz genau wissen, dass sie uns das Herz brechen wird - und die genau deshalb so wichtig ist.
Vor ein paar Wochen rief das Tierheim Esslingen bei uns an. Es gebe da eine junge Katze bei ihnen, die einen schlimmen Herzfehler habe und vermutlich nicht mehr lange leben würde. Ob wir nicht einen Platz für sie hätten, war die Frage. Im ersten Moment dachte ich: Ja klar, das machen wir. Doch gesagt habe ich: Das müssen wir uns gut überlegen. Denn es wäre kein Zuhause für Jahre, kein Zuhause für ein langes Leben. Sondern ein Zuhause für ihre letzte Zeit.
Uns war sofort klar, dass damit Verlust, Schmerz und Trauer verbunden sein würden. Das ist es bei jedem Tier, das wir aufnehmen - sie erhalten einen Lebensplatz. Das bedeutet auch, dass sie bei uns irgendwann ihre letzte Reise antreten. Manche früher, manche später. Doch bei Nora würde uns das in einer ganz anderen Unmittelbarkeit treffen.
Wir haben uns bewusst dazu entschieden, Nora aufzunehmen. Nicht, weil wir eine lange Zukunft teilen werden, sondern weil wir uns in der Gegenwart brauchen. Wir wissen, dass unsere gemeinsame Zeit endlich ist. Der Tod sitzt in einer Ecke des Zimmers - leise, unbeirrbar, wie ein Schatten im Abendlicht. Ich sehe ihn, wenn ich ihre Atemfrequenz zähle. Ich spüre ihn, wenn ich ihr die Tabletten gebe. Ich höre ihn, wenn ich ihrem Herzschlag lausche. Es wäre einfach, sich abzuwenden und zu sagen: Es ist zu schwer, wir halten das nicht aus. Doch stattdessen haben wir uns entschieden, nicht nur unsere Türen, sondern auch unsere Herzen zu öffnen. Nicht nur für Nora, sondern auch für den Tod, der mit ihr kommt.
Wir haben uns entschieden, ihn nicht als Feind zu betrachten, sondern als Mitbewohner. Er erinnert uns daran, wie zerbrechlich das Leben ist. Und wie wertvoll jeder Atemzug sein kann. Mit Nora lernen wir, dass Liebe sich nicht in Jahren messen lässt. Sie zeigt sich im Augenblick: Einem leer geschleckten Napf, einem aus der Hand genommenen Leckerli, einem ersten Schnurren, ein vertrauensvoller Blick. Vielleicht dauert dieses Jetzt Wochen, vielleicht Monate, vielleicht sogar Jahre. Aber was zählt ist, dass wir es gemeinsam bewusst genießen.
Wir wissen, dass der Abschied bereits mit ihrem Einzug bei uns begann. Mit jedem Herzschlag kommt er uns näher. Und doch - oder gerade deshalb - entscheiden wir uns, das Leben lauter werden zu lassen als die Angst. Wir entscheiden uns, das Hier und Jetzt zu umarmen, als wäre es unendlich.
Es ist nicht leicht, den Tod im eigenen Zuhause so unmittelbar zu spüren. Er sitzt mit uns im Zimmer, wenn Nora schläft. Er wandert neben uns, legt sich in unsere Gedanken, wenn wir sie atmen hören. Aber er raubt uns nicht die Freude - außer wir lassen es zu. Wir dürfen traurig sein, in Momenten voller Liebe. Wir dürfen weinen, schon bevor es soweit ist. Doch wir dürfen auch lachen, uns freuen, dankbar sein für jeden Augenblick, in dem Nora lebt, liebt und vertraut.
Wir dürfen Wunder mit ihr erleben. Als sie zu uns kam, verkroch sich Nora nur unter einer Decke. Sie war wie in Schockstarre, hatte Angst vor uns und der neuen Umgebung. Sie wollte nicht fressen, sich nicht anfassen lassen - sie existierte nur. Doch mit viel Zeit und Zuwendung fasst sie langsam Vertrauen und darf erfahren, was es bedeutet, ein Zuhause zu haben. Sie darf Streicheleinheiten genießen, sich durch sämtliche Futtersorten probieren und Spaß beim Spielen haben. Sie darf neue Katzen kennenlernen und bald schon Gras unter den Pfoten spüren - in einem gesicherten Rahmen. Nora verblüfft uns von Tag zu Tag. Sie zeigt uns, dass Vertrauen wachsen kann, das jede Angst überwunden werden kann. Sie zeigt uns, was es bedeutet, zu leben.
Vielleicht ist das die größte Lektion, die Nora uns lehrt: Der Tod macht das Leben nicht kleiner, er macht es dichter. Er schenkt uns eine Klarheit und Schärfe, mit der wir das Alltägliche plötzlich wie ein Wunder sehen. Ein geleerter Napf, eine ausgelassene Spieleinheit. Ein Blick, der sagt: Ich bin da. Und du bist da. Und das genügt.
Wir gehen diesen Weg gemeinsam - wissend, dass er an einem Punkt enden wird, den wir nicht bestimmen können. Doch bis dahin füllen wir jeden Schritt mit Liebe. Mit Geborgenheit. Mit Würde. Nora ist mehr als ihre Krankheit. Sie ist mehr, als ihr Herz mit dem Loch. Sie ist Leben - jetzt, hier, bei uns.
Und wenn der Tag kommt, an dem sie loslässt, werden wir da sein. Nicht als Zeug*innen des Sterbens, sondern als Begleiter*innen des Lebens bis zum letzten Atemzug.
Vielleicht ist es auch so: Mit Nora zieht nicht der Tod bei uns ein - sondern die Erinnerung, dass Liebe sich nicht an Zeit bindet, sondern an Tiefe. Dass wir im Annehmen des Endes das Schönste entdecken können: Den Wert des Moments.
Herzlich Willkommen Nora, Lebenstag: 28.09.2025
Kommentar hinzufügen
Kommentare
Der Text ist so unsagbar schön und von ganzem Herzen geschrieben. 🙏🏻Er geht mir mitten ins Herz und hat mich unheimlich zu Tränen gerührt. So viel Liebe, Fürsorge und Dankbarkeit. Eine so wunderschöne Einstellung zu Leben und Tod. Nora ist ein Geschenk für Euch und Ihr ein Geschenk für Nora. Das Tierheim Esslingen wusste genau warum es Euch gefragt hat. Nora wird noch eine unfassbar schöne Zeit bei Euch haben. Es zählt das jetzt und hier nicht wann der Moment kommen wird. Ich wünsche der kleine Nora viele wunderschöne Momente die sie bei Euch erleben wird und darf. Ich wünsche Ihr von ganzem Herzen viel Freude, Spaß mit Ihren Katzenfreunden zu Hause. Ich liebe Sie wie jedes einzelne Tier auf Eurem Lebenshof Seelenglück.
💜🩷🩵💙🤍💛🧡❤️💚